Was ist sozialgeschichtliche Exegese?

Sozialgeschichtliche Bibelauslegung/Exegese

  • will die Bibel als eine Sammlung von Texten aus unterschiedlichen sozialen Kontexten verstehen helfen. Sie geht von der Voraussetzung aus, dass biblische Texte nicht etwa lediglich Produkte religiöser Ideen darstellen, sondern mit der sozialen Wirklichkeit der damaligen Gesellschaften eng verwoben sind.
  • versucht den Alltag zu rekonstruieren, in dem die biblischen Texte jeweils entstanden sind. Der Alltag ist eingebettet in politische und wirtschaftliche Strukturen antiker Gesellschaften und geprägt von den kulturellen Vorstellungen dieser Gesellschaften.
  • fragt nach den Macht- und Herrschaftsverhältnissen in antiken Gesellschaften und wie sich diese konkret im Alltag der Mehrheit der Bevölkerung auswirkten.
  • erforscht die Folgen extrem ungleicher Machtverteilung in antiken Gesellschaften: Welche Veränderungen zog z.B. die Etablierung des Königtums in Israel für die bäuerlichen Bevölkerungsgruppen nach sich? Welche Auswirkungen hatte die römische Herrschaft auf das Leben der unterworfenen Völker und insbesondere in Israel?
  • setzt sich mit den wirtschaftlichen Bedingungen der antiken Gesellschaften auseinander und beschäftigt sich mit Fragen, wie die Menschen unter den wirtschaftlichen Gegebenheiten ihren Alltag bestritten haben: Wie gut konnten sie sich mit ihrer Arbeit versorgen? Wer konnte sich welche Lebensmittel leisten? Welche Kleidung trugen Menschen unterschiedlicher sozialer Schichten? Welche Rolle spielte Geld in ihrem Alltag? Gab es eine geschlechtsspezifische Arbeitsteilung? Wie wurde die Arbeit von Frauen, wie die von Männern entlohnt? Wie sah das Leben von Sklavinnen und Sklaven? Was geschah mit Menschen, die nicht mehr in der Lage waren, sich mit eigener Kraft zu versorgen?
  • bleibt nicht bei der Rekonstruktion antiker Gesellschaften stehen. Sie beschäftigt sich damit, wie die Bedingungen des täglichen Lebens den Glauben an den einen Gott Israels und die Kommunikation über diesen Glauben geprägt und wie der Alltag das Erzählen vom Messias Jesus und das Nachdenken über ihn beeinflusst haben.
  • versteht sich nicht als voraussetzungsfreie Wissenschaft, die nicht hinterfragbare, objektive Erkenntnisse produziert. Sie lebt von hermeneutischen Erkenntnissen, die in theologischen Umbrüchen der 2. Hälfte des 20. Jh., in der weltweit auftretende Befreiungstheologien, formuliert wurden und die seither selbst bedeutende Veränderungen und Erweiterungen erfahren haben.
  • Eine befreiungstheologische Hermeneutik geht davon aus, dass sowohl die Bibeltexte als auch die Auslegenden dieser Texte durch ihre jeweiligen Kontexte, ihre Lebensbedingungen und Interessen nachhaltig geprägt sind. Diese werden so zu einem eigenen Gegenstand theologischer Reflexion. Ein solcher hermeneutischer Ansatz fragt nach dem emanzipatorischen und widerständigen Gehalt der biblischen Texte für die Armen, die Unterdrückten und die Ausgegrenzten.
  • Befreiungstheologische Ansätze und sozialgeschichtliche Bibelauslegung orientieren sich an zentralen biblischen Inhalten. Dabei ist vor allem von dem Gott die Rede, der Partei zugunsten der Marginalisierten ergreift.
  • Eine befreiungstheologisch inspirierte Exegese erkennt dabei die Widersprüchlichkeit biblischer Texte. In ihnen geht es nicht nur um Befreiung von Unterdrückung. Häufig genug zielen Texte selbst auf die Marginalisierung von bestimmten Gruppen ab. Im Wissen darum suchen Befreiungstheologie und sozialgeschichtlicher Exegese nach Wegweisungen für eine befreiende Praxis in unserer Zeit und in unseren Lebensverhältnissen.
  • Feministische Theologien haben männliche Dominanz und Verhältnisse der Geschlechter zu einem zentralen Thema der Theologie gemacht. Dies hat Auswirkungen auf die Exegese gehabt. Dabei geht es nicht allein um die exegetische Wahrnehmung biblischer Frauen, z.B. als vergessene Prophetinnen oder kämpferische Vorbilder, sondern um die Erforschung ihrer spezifischen Lebensbedingungen: Exklusion aus bestimmten gesellschaftlichen Bereichen, Veränderungen der Partizipation von Frauen in antiken Gesellschaften, kulturell geprägte Vorstellungen der Unterordnung von Frauen unter Männer, sexuelle Gewalt gegenüber Frauen, die Bedeutung der Lebenswelten von Frauen für das Reden von Gott.
  • Seit der Schoa hat sich ein mühevoller theologischer Dialog- und Reflexionsprozess entwickelt, der die Konsequenzen des millionenfachen Mordes an jüdischen Menschen, an dem Christen beteiligt waren, bedenkt. Dazu gehört vor allem eine veränderte Sicht auf das Alte Testament und das Judentum. Sozialgeschichtliche Bibelauslegung ist damit dem christlich-jüdischen Dialog der Gegenwart verbunden. Sie versteht das Neue Testament nicht mehr im Gegensatz, als Überbietung oder gar Widerlegung des Alten Testaments. Sie liest das Neue Testament als eine Sammlung jüdischer Schriften, in denen die Traditionen und Texte des Alten Testaments und des antiken Judentums für ihren jeweiligen Alltag weiter interpretiert worden sind.
  • Sozialgeschichtliche Bibelauslegung ist sich der großen Unterschiede zwischen antiken und heutigen Gesellschaften bewusst und reflektiert diese. Sie geht aber davon aus, dass gerade die Wahrnehmung dieser Unterschiede für die heutige Zeit fruchtbar ist und orientierende Impulse geben kann – und zwar, wenn die biblischen Texte unter Beachtung der damaligen Lebensverhältnisse und im Sinn der befreiungstheologischen Hermeneutik in gegenwärtige Problemkonstellationen und Konflikte hineingestellt werden und auf ihre orientierende und transformierende Kraft befragt werden. Sozialgeschichtliche Bibelauslegung bleibt nicht bei der historischen Rekonstruktion stehen. Das Aufzeigen möglicher Konsequenzen der Auslegung für die eigene Gegenwart – das ist ein Ziel sozialgeschichtlicher Exegese. Das ist es, was mit der oft zitierten hermeneutischen Spiralbewegung zusammengefasst werden kann: Die sozialgeschichtliche Lektüre und Relektüre der Bibel in den Konflikten der Zeit durchläuft immer eine Bewegung vom Leben zur Bibel und von dort zurück zum Leben, in dem wir und andere Menschen stehen.